Am Sonnabendmorgen gegen 01.45 Uhr weckte mich Annelie, weil auf dem Schlengel vor unserem Boot eine Person stand, die jämmerlich heulte. Ich schaute nach und entdeckte jemanden, der einen betrunkenen Eindruck machte. Leider hat der Betreffende nicht um Hilfe geschrien, so dass ich seinem Verhalten keine weitere Bedeutung beimaß. Da das Heulen nicht aufhörte, legten wir uns auch nicht wieder schlafen. Augenblicke später kamen Feuerwehr, Polizei und weitere Kräfte mit Anhänger und Schlauchboot angerast. Fünf oder sechs junge Froschmänner sprangen in Wild-West-Manier über das Straßengeländer auf unseren Ponton, direkt auf unser Boot zu. Annelie hat vor Schreck das Vorluk zugeknallt! Doch der Überfall galt nicht uns, sondern die Einsatzkräfte begannen, das Wasser zwischen unserem und den Nachbarbooten abzusuchen. Da ich bald wieder herausschaute, wurde ich gefragt, ob ich etwas bemerkt hätte. Aber es hatte sich hier nichts abgespielt, jedenfalls hatten wir nichts beobachtet, bis eben die jammernde Person auf dem Ponton, die ich für einen Betrunkenen hielt.
Rolland, der jetzt mit seinem Boot "Cloel" uns genau gegenüber auf der anderen Seite des Hafens liegt, rief herüber und fragte, was denn los sei. Ich antwortete ihm, dass ich nichts bemerkt habe und darum auch nicht wüsste, worum es konkret ginge. Dass die Wasserfläche um uns herum abgesucht wurde, hatte er ja nun schon mitbekommen.
Die Suchmannschaft war weiter Richtung Schlengelende gezogen, da rief Rolland erneut herüber, ich solle doch mal nachsehen, ob mit Jean (Name geändert) etwas passiert sei, denn in der Nähe seines Bootes ging die Suche weiter. Auf Jean war ich nicht gekommen, aber ich hatte sofort kapiert ...! Nein, nicht das!!!
Auf dem Wege dorthin erkannte ich bald, dass eine leblose Person aus dem Wasser gezogen worden war, auf den Schlengel verbracht und von den Rettungskräften intensiv wiederbelebt wurde, leider wohl ohne Erfolg! Ich schaute der geborgenen Person ins Gesicht: Es war Jean ...
Tiefes Entsetzen packte mich, waren wir doch mit Jean und seiner Frau Lucie (und ihrem Schäferhund "Tonton") sehr gut befreundet. Vor gut einem Jahr hatten wir mit den beiden - zusammen mit Hans und Gudrun - Silvester an Bord gefeiert. Wir trafen uns fast täglich und unterhielten uns über dies und das: Hafenrees, was man so spricht. Letzten Herbst machten sich Lucies Rückenprobleme wieder stärker bemerkbar und die beiden nahmen sich eine kleine Wohnung oberhalb des Hafens, weil das Bordleben für Lucie und ihrem Rücken zu beschwerlich wurde. Jeden Morgen kommt Lucie oben auf der Straße an unserm Schiff vorbei, da sie regelmäßig den Hund ausführt.
Es war im Hafen bekannt, das Jean häufiger dem Alkohol zusprach. Im letzten Frühjahr war er an Bord alkoholbedingt gestürzt und musste längere Zeit an Krücken laufen. Wenn er frühmorgens nach einem Tripp durch die Gemeinde zurück kam, ging er nicht in die Wohnung, sondern zog an Bord und schlief sich aus. So muss es wohl auch heute Morgen gewesen sein. Leider hatte er seine Koje nicht mehr erreicht.
Die Einsatzkräfte zogen wieder ab, aber das Getümmel auf dem Schlengel nahm eher noch zu. Verschiedene Polizeikräfte tauchten auf und stellten Fragen, notierten Namen und gaben Anweisungen. Gott-sei-Dank war Rolland gleich rübergekommen und wir waren nun zu zweit. Zum Schluss kamen drei weiß gekleidete junge Damen vorbei. Die Aufschrift auf ihren Rücken wies sie als Notärzte des hiesigen Krankenhauses aus. Als sie bald wieder abzogen, fragte ich eine Ärztin im Vorbeigehen, ob er tot sei, was sie kopfnickend bestätigte.
Die Polizei fragte uns nach dem familiären Hintergrund. Jean hatte mir mal vom Hafen aus seine Wohnung gezeigt. Dahin machten wir uns mit zwei Polizeiwagen auf. Wir konnten aber oben am Berg von der Straßenseite her das Haus nicht identifizieren, so dass ein Polizist und ich wieder runter zum Hafen fuhren und von unten versuchten, das richtige Haus zu entdecken. Mit der Taschenlampe gaben wir von unten Hinweise. Oben wieder angelangt, wurden die Bewohner mit Türgeklingel, Blaulicht und Taschenlampen aufgeweckt, aber es blieb beim Versuch, niemand rührte sich. Wir haben uns dann alle traurig verabschiedet und wollten Lucie am Morgen informieren.
Rolland fing sie als erster beim Hundespaziergang ab und informierte sie; ich sah die beiden oben auf der Straße; Lucie war sehr tapfer! Gleich danach kamen sie zu uns auf den Schlengel: Es war eine tief-traurige Begrüßung. Ich war trotzdem heilfroh, dass Rolland den Part übernehmen musste, mir wäre das auch sprachlich sehr schwer gefallen!
Stunden später kamen noch einmal zwei Polizisten bei uns vorbei und fragten, ob wir Lucie inzwischen erreicht hätten. Übrigens, in der Straße hatten wir uns nachts geirrt. Lucies Wohnung war noch ein Straßenzug höher am Berg!
Wir haben unsere Flaggen halbstocks gesetzt. Da heute Markt war, besorgte Annelie einen großen Strauß weißer Winterastern. Mit einem schwarzen Trauerflor versehen, haben wir die Vase unter die Sprayhood der "Anna" gestellt.
Als wir die traurige Begrüßung auf dem Schlengel hatten, kam Mary vom Markteinkauf zurück. (Toni und Mary sind Engländer und leben auf der "Cape Cornwall" winters im Port de Morlaix.) Mary, die kein Französisch spricht, bekam trotzdem mit, dass etwas nicht stimmte und schaute so irritiert, dass ich ihr in ihrer Sprache sagte, wir kämen nachher vorbei. Wir haben ihnen dann später an Bord - bei einem Cappuccino - das nächtliche Geschehen, von dem sie nichts mitbekommen hatten, verklart. So ging der Morgen dahin und es wurde langsam Mittag.
Lucie, Rolland, Annelie und ich standen noch lange vor der "Anna", genau an der Stelle, wo Jean reanimiert werden sollte und überlegten, wie sich alles zugetragen haben könnte:
Von der Polizei erfuhr ich nachts, dass ihr Informant (die Person, die vor unserem Boot heulte!) von der Bar "Le Sterne" (auf einer Péniche) auf der andere Hafenseite, Jeans Sturz ins Wasser beobachtete und auch fotografierte (!). Er sei dann über die Passerelle auf unsere Seite gekommen, konnte aber die richtige Stelle nicht mehr finden und landete bei uns. Von der Bar aus kann man gut auf die Backbordseite der "Anna" und den zugehörigen Fingersteg schauen. Ich dachte daher, Jean sei gar nicht erst an Bord gelangt und gleich ins Wasser gestürzt, was man ja von drüben hätte gut beobachten können. Auf den Steg gezogen und beatmet wurde er aber auf der anderen - Steuerbordseite. Das führte uns zu dem Schluss, dass Jean wohl doch schon an Bord gelangt und erst vielleicht beim Übergeben oder Pinkeln ins Wasser gestürzt ist, was dann wiederum von der Péniche schlecht zu beobachten gewesen wäre.
Nach dem Tee kam Rolland vorbei. Es sollte die "Anna" von Hand gedreht werden, damit Lucie mit ihrem Hund vom Schlengel aus achtern gut ins Boot steigen könne. Zu viert, dazu kamen noch Jean-Yves und Max (seit gestern wieder per Flugzeug von den Kanaren zurück) drehten wir das Boot und trafen uns noch anschließend zu einem Bier bei Jean-Yves auf seiner "Ménéstrel".
Sehr zu meinem Mißfallen muss von nun an nachts das Vorluk bis auf einen kleinen Spalt stets geschlossen werden, da Annelie erst nach zwei oder drei leisen Pieptönen meiner Uhr (Meine Armbanduhr soll sich Punkt Mitternacht zucken, was ich aber noch nie gehört habe!) ihre “Nachtwache” allmählich beendet und in einen erholsamen Tiefschlaf fällt, von dem sie sich dann auch spät morgens nur ungern abbringen lässt, ich hingegen bin schon mal ab fünf oder sechs Uhr bei einer Tasse Tee online – mails and more. Sowie ich mich erhoben habe, geht Annelie in die Phase des “bewachten Schlafs” über, und ich darf das Vorluk nun wieder weit öffnen.
Etliche Tage später – bei der Seebestattung - erfuhren wir, Jean war nicht ertrunken, sondern einem Herzschlag erlegen! Auch ein umgehender Rettungsversuch wäre da vergeblich gewesen.
Dies war nun schon unser dritter Todesfall in diesem Ort! Den jungen Motorradfahrer, der im Spätherbst beim Hafenmeisterbüro ungebremst in den Stahlmast einer Straßenlaterne jagte, haben wir dabei nicht mitgezählt.
Gestern Nachmittag stand Rolland mit erhobener Faust in seinem Cockpit und schrie wütend über den Hafen: "Merci Jean, merci Jean, merci ...!" Auf der anderen Hafenseite legte jemand mit seinem 8m-Boot ab. Er schob es kräftig aus der Box, zum Schluss am Heckkorb und ... sprang nicht auf! Er gab dem Boot noch einen richtigen Schubs, und dann kurvte der Plastikkahn unbemannt durch den Hafen. In einem großen Bogen fuhr er auf unsere Seite zunächst in Richtung Rolland, schrammte kurz an seinem Heck vorbei, rammte den Nachbarn, und zielte dann auf uns. Aber das Boot drehte immer weiter nach Steuerbord und landete schließlich wieder auf der anderen Seite, wo es ohne größeren Schaden anzurichten von einem hilfsbereiten Segler eingefangen und umgehend festgebunden wurde. Der "Schieber" hingegen brüllte nach seinem letzten kraftvollen "Push" quer über den Hafen: "Das habe ich ihm heute Morgen gesagt, das ist mein Platz, den will ich heute Nachmittag mit meinem Boot wieder belegen!" Drehte sich um, spülte den tief-schwarzen Dreck von seinen Stiefeln ab, ging zu seinem Auto und fuhr ungerührt davon. Mein Bootsnachbar tippte sich an die Stirn und meinte, der sei ja verrückt
So kann es gehen! Wir haben das jedenfalls noch nicht gesehen; bei uns würde der aus dem Hafen fliegen, und eine Anzeige wäre ihm gewiss.
1 Kommentar:
Sympa les photos prises du mât !
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